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Interview mit Martin Schulz „Angela Merkel hat keinen Plan für eine Industrienation, wie wir es sind“ Martin Schulz ist Kanzlerkandidat der SPD. Der 1955 in Helrath geborene Politiker war mehr als zehn Jahre Bürgermeister von Würselen (NRW). 13 Jahre lang war er Mitglied des Europäischen Parlamentes und bis 2017 fünf Jahre lang dessen Präsident. Bei einem Besuch von Rautenberg Media sprachen die Verleger-Familie Sigurd Rautenber-Otten sowie Dr. Franz-Wilhelm und David Otten und der Journalist Carsten Seim mit Schulz. „Juniorpartner“Ihr „„„„Juniorpartner““““ könne Merkels Union in einer neuen Bundesregierung werden, haben Sie in einem Interview der SUPER ILLU gesagt. Ist es das realistisch? Nur jeder Vierte will nach Umfragen SPD wählen ... Die Umfragen sagen uns auch, dass beinahe jeder Zweite sich noch nicht entschieden hat, wen er wählen soll. Die einzige Sonntagsfrage, die mich wirklich interessiert, ist die am 24. September, dem Wahltag. Warum wären Sie der bessere Bundeskanzler als Angela Merkel? Weil ich einen Zukunftsplan für Deutschland und Europa habe. Merkel hat die Haltung: „Alles ist gut, deshalb tun wir nichts“. Das reicht nicht für unsere Industrienation. Angela Merkel bewirbt sich jetzt wie einst Helmut Kohl für eine vierte Amtszeit. Die Agonie, die wir politisch in den Jahren 1994 bis 1998 erlebt haben, sollte man Deutschland jetzt ersparen. Noch einmal zurück zu den Umfragen: Rot-Rot-Grün ist ja weit weg. Welche neue Regierungskonstellation halten Sie denn für realistisch? Bei einer Bundestagswahl werden keine Koalitionen gewählt, sondern Parteien. Als SPD haben wir das differenzierteste Programm vorgelegt. Und wer nach der Wahl auf dieser Basis mit uns sprechen will, ist dazu nach dem 24. September herzlich eingeladen. Sie haben sich „„„„„Gerechtigkeit“““““ auf die Fahnen geschrieben. Warum zündet das nicht stärker? Meine Wahlkampfveranstaltungen sind sehr gut besucht, und in Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern nehme ich folgendes wahr: Gerechtigkeit ist sehr wohl ein großes Thema für die Menschen. Wir haben massive Gerechtigkeitslücken in Deutschland! Wir haben weder Bildungs- noch Generationengerechtigkeit. Wir haben auch keine Gerechtigkeit in der medizinischen Versorgung. Wenn jemand in der Arztpraxis sitzt, und andere kommen schneller dran, weil sie privat versichert sind, dann ist das ungerecht. Es ist auch nicht gerecht, dass die Leistungsträger der aktuellen Generation die höchsten Rentenbeiträge zahlen, nach dem Willen der CDU am Ende aber bis 70 arbeiten sollen und zugleich die niedrigsten Renten bekommen werden. Auch Sicherheit ist eine Gerechtigkeitsfrage: Reiche Leute können sich private Sicherheitsdienste leisten, Normalverdiener sind auf Polizeipräsenz angewiesen, damit sie sicher nach Hause kommen. Laut einer GfK-Studie sei Zuwanderung die größte Sorge der Deutschen. Ich habe schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt gesagt: Wir brauchen eine europäische Lösung für die Flüchtlingsfrage. Und wir brauchen auch ein europäisches Einwanderungsrecht, um Ordnung zu schaffen und ein System der Hoffnungslosigkeit zu ersetzen durch ein System der Hoffnung. Europa war wegen nationaler Egoismen in dieser Frage bislang nicht gemeinsam handlungsfähig. Wie wollen Sie das ändern? Deutschland ist als größer Nettozahler innerhalb der Europäischen Union solidarisch, wenn es um Sanktionen gegen Russland geht. Wir fördern mit unseren Steuergeldern Landwirtschaft und Infrastrukturprojekte vor allem in Osteuropa. Wenn es dann aber aus osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Polen heißt: Sanktionen und Subventionen? „Ja bitte!“ Aber Flüchtlinge? „Nein danke, macht Ihr das in Deutschland mal alleine.“ Dann sage ich: Solidarität in Europa ist keine Rosinenpickerei. Und deshalb werde ich als Bundeskanzler europäische Solidarität zur Bedingung für den EU-Haushalt und die damit verbundenen Subventionen machen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der keine Gelegenheit auslässt, gegen die Solidarität in Europa zu arbeiten, ist übrigens Ehrengast bei der CSU und bekommt Unterstützung von Herrn Seehofer. Rund eine halbe Million abgelehnter Asylbewerber lebt nach Zahlen aus 2016 bei uns. Ist es richtig, dass ein rot-rot-grün regiertes Land Berlin den Vollzug behördlich verfügter Abschiebungen hinauszögert? Ob abgeschoben wird, entscheiden am Ende Gerichte. Wenn diese ein Urteil gefällt haben, dann haben Landesregierungen das auszuführen. Ganz klar ist: Wer Asyl und damit Schutz in Deutschland sucht und dann schwere Straftaten begeht, muss abgeschoben werden - ob in Berlin oder Bayern! Wir reden hier ja von Menschen. In einem Fernsehstudio ist mir ein afghanischer Jugendlicher begegnet: 18 Jahre alt, in Ausbildung, gute Deutschkenntnisse, sehr gute Integrationsaussichten, keine Eltern im Heimatland. Er soll abgeschoben werden, obwohl sich die ganze Stadt dafür stark macht, dass er bleiben kann. Ich habe ihn gefragt, woher er kommt. „Aus Mellrichstadt in Bayern.“ Warum sollen wir diesen jungen Mann abschieben? Wird er nun auch nicht. Wir brauchen übrigens auch ein Einwanderungsgesetz, das eine Perspektive jenseits des Asyls bietet und auch die Integrationsperspektive im Blick hat. Haben Menschen, die mit gefälschten Papieren zu uns kommen oder ihre Herkunft bewusst verschleiern, Anspruch auf Asyl? Wer bewusst täuscht, kann kein Asyl bekommen! Der Steuerzahlerbund meldete im Sommer ein Allzeithoch bei der Einkommensbelastung. Weit über 50 Prozent des Einkommens fließen an öffentliche Kassen. Ist es hier nicht Zeit für eine Umkehr? Gehen wir ins Detail: Wenn wir die Krankenversicherungsbeiträge senken wollen, müssten wir die Leistungen reduzieren. Das will keiner. Wenn wir in der Rentenversicherung nichts tun, werden die Beiträge dramatisch ansteigen, weil unsere Gesellschaft älter wird. Unser Ziel ist, die Beiträge stabil zu halten. Die Arbeitslosenversicherung hat derzeit hohe Überschüsse. Ich rate dringend dazu, dieses Geld für Qualifizierungsmaßnahmen zu verwenden. Denn das ist der Schlüssel für den Arbeitsmarkt der Zukunft. Bei den Abgaben sehe ich keine Spielräume, bei den Steuern schon. Und wie soll diese Steuerentlastung aussehen? Mehr Netto vom Brutto würde doch die Wirtschaft ankurbeln! Wir wollen den Soli abschaffen, weil damit untere und mittlere Einkommen sofort entlastet werden. Und wir wollen die Schwelle, ab der der Spitzensteuersatz zu zahlen ist, deutlich anheben. Es kann nicht sein, dass Menschen, die als Facharbeiter arbeiten, bereits der Spitzensteuersatz aufgebürdet wird. Er soll bei Alleinstehenden erst ab 76.200 Euro zu versteuerndes Einkommen greifen, bei Verheirateten das Doppelte. Dafür wird er moderat angehoben um drei Prozent. Wir wollen die hart arbeitende Mitte entlasten! Künftig soll es außerdem einen Kinderbonus von 150 Euro pro Kind und Elternteil auf die tatsäch- Kanzlerkandidat Schulz: Steuersenkungen werden nicht möglich sein - denn auch die Mütterrente ist ein Weg zu mehr Gerechtigkeit.


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