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Interview mit Cem Özdemir „Der Kampf um Platz 3 ist richtungsentscheidend“ Cem Özdemir ist seit November 2008 Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen. 1965 geboren im schwäbischen Bad Urach ist er Sohn türkischer Einwanderer und nennt sich selbst einen „anatolischen Schwaben“. Cem Özdemir absolvierte auf dem zweiten Bildungsweg ein Fachhochschulstudium zum Sozialpädagogen. In der Kölner Grünen-Zentrale sprach er mit Sigurd Rautenberg-Otten sowie David und Dr. Franz-Wilhelm Otten und Carsten Seim. S 2013 erlebten Sie mit einem von Steuererhöhungen geprägten Programm einen Einbruch auf 8,4 Prozent. Das entspricht ihren aktuellen Umfragewerten. Woran liegt es, dass die Grünen nicht mehr zur alten Form zurückfinden können? Özdemir: Die Parteien, die sich um Platz 3 im Bundestag bewerben, liegen in den Umfragen nahe beieinander. Hier und nicht bei Union und SPD wird sich die Frage entscheiden, wohin sich unser Land bewegt. Packen wir in Deutschland die großen Zukunftsaufgaben an oder werden sie weiter ausgesessen? Setzen wir auf Fortschritt oder Stillstand? Machen wir konsequenten Klimaschutz und unsere Luft sauber oder verbrennen wir mit Union, SPD und FDP weiter dreckige Kohle und produzieren Unmengen Abgase? Setzen wir auf mehr Gerechtigkeit und Wertschätzung für Pfleger und Erzieherinnen oder setzen wir auf das FDP-Prinzip ‚Jeder kämpft für sich allein‘ - in der deutschen Gesellschaft wie in Europa? Am 24. September geht es um eine echte Richtungswahl. Und wie stehen Sie zu Steuererhöhungen, ddiiee IIhhnneenn 22001133 ddiiee Wahl verhagelt haben? Die Grünen sind keine Steuererhöhungspartei! Wir wollen die Familien, die Unterstützung brauchen können, gezielt mit 12 Milliarden Euro jährlich entlasten. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit. Mit der Steuervermeidung internationaler Konzerne wie Amazon, Apple oder Google muss Schluss sein. Was hat die Regierung Merkel denn unterlassen? Angela Merkel handelt nach dem Motto: zu spät, zu wenig und dann überstürzt. So war es auch beim Atomausstieg. Wir hatten einen geordneten Atomausstieg gemeinsam mit den Stromkonzernen vereinbart. Diesen hatten Union und FDP 2010 aufgekündigt. Nach dem Super Gau in Fukushima ist Merkel dann Hals über Kopf ausgestiegen. Die Quittung erhalten wir jetzt nachträglich bei der Brennelemente- Steuer, die der Finanzminister hoch verzinst zurück an die Konzerne überweisen muss. Das kostet uns alle über 6 Milliarden Euro - einfach weil Schwarz-Gelb gepfuscht hat. Der Steuerzahlerbund hat jüngst eine Einkommensbelastungsquote von 54,6 Prozent durch Steuern und Abgaben publiziert - ein Allzeithoch. Ist hier nicht eine Schmerzgrenze erreicht? Sie ist vor allem bei den kleineren und mittleren Einkommen erreicht - und hier vor allem bei den Lohnzusatzkosten. Die Große Koalition hätte für eine Entlastung der Beitragszahler sorgen können. Das Gegenteil ist der Fall! Ihre Rentenreform belastet die Beitragszahler bis 2030 mit 160 Milliarden Euro zusätzlich. Und sozial ist die Rente mit 63 am Ende nicht: Wer 45 Jahre gearbeitet hat, hat viel geleistet, aber ist auch vergleichsweise gut versorgt. Unsere Unternehmen verlieren gleichzeitig erfahrene Mitarbeiter, weil diese durch die abschlagsfreie Rente einen Anreiz haben, früher in den Ruhestand zu gehen. Doch was ist beispielsweise mit der Altersversorgung von Erwerbsgeminderten? Die sind eben nicht in der Gewerkschaft und haben damit keine Lobby bei dieser Regierung. Wir müssen bei den Lohnnebenkosten runter. Eine weitere Baustelle ist die Mehrwertsteuer. Die FDP hat diese Steuer mit ihrer Klientelpolitik bei der Hotelsteuer verkompliziert. Ich möchte den verringerten Mehrwertsteuersatz nur bei ganz wenigen Ausnahmen anwenden. Eine „„„„„verfassungsfeste Vermögenssteuer“““““ soll „„„„„Superreiche“““““ stärker zur Kasse bitten, so Ihr Programm. Warum war Ihr Ministerpräsident Kretschmann dagegen? Kretschmann war dagegen, weil er besorgt war, dass die Vermögenssteuer zu früh greift. Deshalb sage ich hier wie auch auf dem Parteitag: Diese Steuer soll für Multimillionäre und Milliardäre gelten. Sie darf die Investitionskraft des Mittelstandes nicht schwächen und keine Arbeitsplätze in Frage stellen. Limonade-Verbot an Schulen, Motorroller Bann, Veggy-Day und Terrassenwirtschaften ohne Heizpilze - die Grünen gelten vielen als Verbotspartei. Was halten Sie dem entgegen? Nichts davon steht in unserem Programm. Die Grünen sind keine Verbotspartei! Ich drehe den Spieß einmal herum: Wieso verbieten Union, SPD und FDP eigentlich, dass Sie als Verbraucher im Supermarkt erfahren, wie die Tiere gehalten wurden, deren Fleisch Sie kaufen? Wir wollen die Macht der Verbraucher stärken und eine klare Tierhaltungskennzeichnung auf der Verpackung. Wir haben zu Zeiten von Verbraucherschutzministerin Renate Künast durchgesetzt, dass Verbraucher erfahren, wie Hühner gehalten werden, deren Eier sie kaufen. Wenn Transparenz herrscht, kann der Kunde entscheiden, welche Haltung er bevorzugt. Die Autoindustrie ist unser wichtigster Wirtschaftszweig - nicht eingerechnet weitere Jobs bei Dienstleistern, die sicher Millionengrößenordnungen erreichen. Ist Ihre Forderung verantwortungsvoll, ab 2030 nur noch abgasfreie Autos neu zuzulassen - also in nur 13 Jahren? Wir wollen im Jahr 2030 nur noch abgasfreie Autos neu zulassen. Wer dann noch einen Benziner oder Diesel fährt, darf diesen aber selbstverständlich weiter benutzen. Anfangs wurden wir dafür belächelt. Nun setzen beispielsweise Frankreich und England das Jahr 2040 als Frist. Für den Automobilzulieferer Continental beginnt 2023 der letzte Zyklus des fossilen Verbrennungsmotors. Porsche will ab 2023 jedes zweite Auto mit Elektroantrieb bauen. Die Bundeskanzlerin hat angekündigt, dass es ein Datum für das Ende der fossilen Verbrenner geben soll - allerdings ohne zu sagen, wann genau. Sie ist eben für die Überschriften zuständig und wir fürs Umsetzen mit klaren Konzepten (lacht). Es ist eine Überlebensfrage für unsere Autoindustrie und Wirtschaft, dass der Technologieschwenk gelingt. Sonst ziehen uns die Chinesen, die gerade viele Staatsmilliarden in die E-Technik investieren, und Firmen wie Tesla, angetrieben von Milliarden an Risikokapital, davon! Wir Grünen wollen, dass auch die Autos der Zukunft in Deutschland gebaut werden. Wir sind dabei offen für alle Technologien. Wichtig ist ein breiter Konsens jenseits parteipolitischer Animositäten. Dazu habe ich eine Zukunftskommission ‚Umweltfreundliche Mobilität‘ vorgeschlagen und den früheren Umweltminister Klaus Töpfer, CDU, als Vorsitzenden gewinnen können. Thema Zuwanderung: Wie stehen Sie zur Forderung Ihres Parteifreundes Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, ddaassss wwiirr nniicchhtt allen helfen können? In unserem Programm steht, dass nicht jeder bleiben kann. Wenn Asylanträge abgelehnt werden, dann wird es auch Menschen geben, die unser Land verlassen müssen. Andererseits finde ich es aber auch nicht richtig, dass junge Menschen mit sehr guter Integrationsperspektive abgeschoben werden. Mir sagen viele Handwerker: „Wir schieben die Falschen ab.“ Auf der anderen Seite darf ein Gefährder wie Amri im Land bleiben, obwohl auch auf europäischer Ebene Informationen über seine kriminelle Karriere vorlagen. Die Vernetzung muss hier endlich besser werden. Erdogan führt die Türkei in ein traditionalistisches und autoritäres Präsidialsystem. Unter in Deutschland lebenden Türken hat er beim Verfassungsreferendum viel Zustimmung erfahren. Was ist hier schief gelaufen mit Multi-Kulti und Integration? In der Türkei finden unter Erdogan keine fairen Wahlen mehr statt. Merkels Politik der Nettigkeit und des Wegduckens gegenüber diesem Cem Özdemir: Strategische Herangehensweise bei der Elektromobilität ist von größter Wichtigkeit.


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