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MoZ aktuell Ausgabe 20/20 I Seite 08 ... denn wir sind von hier! Leserbrief Thema: Leserbrief zur Ethylenoxidanlage zum Brief von Michele Agusta, Betriebsratsvorsitzender der Evonik Industries AG in Lülsdorf aus der MOZ 19/20 Zuallererst, Dank und Kompliment an die MOZ-Redaktion, dass in dieser Zeitung die Diskussion über die Pläne des PCCKonzerns soviel Platz und Unterstützung findet. Der Konzern prüft derzeit den Bau einer Produktionsanlage für Ethylenoxid (EO) sowie von fünf weiterverarbeitenden Anlagen am Evonik-Standort Lülsdorf. Den Brief des Betriebsratsvorsitzenden Michele Agusta in der Ausgabe 19/20 habe ich mit viel Sympathie und Interesse gelesen. Neben der Auseinandersetzung zur Anlage enthält er auch Hinweise zu einer gelungenen Integration einer italienischen Gastarbeiterfamilie hier in Niederkasel. Und dass sich der Betriebsrat der Evonik in die Diskussion einmischt, finde ich richtig. Bei einigen Passagen habe ich aber auch Widerspruch bei mir gespürt und diese Gedanken möchte ich beschreiben. Arbeitsplätze alleine sind kein gutes Argument! PCC schreibt und Michele Agusta bezieht sich darauf, dass mit der geplanten Ansiedlung „bis zu 200 neue Stellen geschaffen werden“. Mit Arbeitsplätzen haben Energieunternehmen, Betriebsräte und Gewerkschaften auch argumentiert, als es um Ausbau und Erhalt der Atomindustrie ging. Inzwischen ist der Ausstieg politisch beschlossen und gesellschaftlich Konsens. Viel aktueller ist der Konflikt um die Braunkohle. Nicht weit weg von Niederkassel und bekannt durch Protestaktionen am Abbau-Gelände und im Hambacher Wald. Betriebsräte und Gewerkschaften waren auch hier eher die Hüter der Arbeitsplätze und der Fortsetzung, während Klimaschützer und KlimaforscherInnen den Ausstieg forderten, der inzwischen im „Kohlekompromiss“ vereinbart ist. Ein Aspekt der Produktion von EO wird bisher kaum diskutiert. Ethylenoxid ist auch Vorläufersubstanz für Giftgas, gehört also zu den Dual-Use Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Der größte Teil der Produktion soll direkt am Standort Lülsdorf verarbeitet werden. Etwa 40.000 Tonnen pro Jahr soll zu Kunden außerhalb des Standortes transportiert werden. Der Tagesspiegel schrieb am 11.10.2014: „Trotz strenger Regeln werden aus Deutschland große Mengen an potenziell gefährlichen Gütern in Krisenregionen und an fragwürdige Handelspartner versandt. Für die Unternehmen ist das ein Milliardengeschäft.“ (Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/ dual-use-gueter-bund-genehmigtriskante milliarden-exporte-in-krisenlaend er/10824462.html) Die Antwort auf meine Nachfrage am 8.2. bei der Informationsveranstaltung zu einer möglichen militärischen Nutzung ließ nicht erkennen, dass der Konzern sich zur Verhinderung einer militärischen Nutzung bereits Gedanken gemacht hat. Ich möchte dem Konzern auch nicht unterstellen, dass er diese Nutzung toleriert. Wünsche mir aber zur Frage des Weiterverkaufs von EO Transparenz und klare Regeln, wohin und zu wem EO transportiert werden darf und wohin nicht. Es geht eben nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um die damit verbundenen gesellschaftlichen Risiken und Kosten, um die Frage „brauchen wir die Produkte wirklich, die hergestellt werden?“ und um die Entwicklung und Förderung alternativer Produkte und Arbeitsplätze. Es gibt keine 100%ige Sicherheit Die Aussagen des Betriebsratsvorsitzenden, dass die Mitarbeiter gut ausgebildet, die Sicherheitsstandards sehr hoch sind und dass bei der Evonik Sicherheit vor Produktion geht, beruhigen mich. Aber nicht völlig. Mir fällt die Meldung vor ein paar Tagen ein, „Schiff bringt Brücke über Dortmund-Ems-Kanal zum Einsturz“. Mensch denkt sich, eine einfache Frage, passt das Schiff unter der Brücke durch oder nicht? Trotzdem ging das schief. Entweder hat ein Mensch oder ein Gerät versagt. Oder vor langer Zeit das Unglück beim Flughafen Köln/Bonn, als ein kleiner Junge von einer Schwingtür erdrückt wurde. Da hatte die Sicherheitstechnik eine Lücke, die obendrein bekannt war. Ich bin sicher, jede Software hat Fehler. Sie fallen nur nicht so oft auf. Erst wenn Hacker das Sicherheitsloch im Betriebssystem finden, wird es deutlich. Ich weiß, Beispiele sind nur Beispiele und die genannten stammen weder aus der Evonik noch aus einer Anlage zur Produktion oder Verarbeitung von EO. Für mich weisen sie darauf hin, dass sowohl Menschen, Technik, Abläufe und auch Software fehleranfällig sind. Und der Mix daraus und die möglichen unglücklichen Verkettungen schwer vorauszusagen sind. Darum wundert es mich schon, wenn Herr Dr. Selbach in der Ausgabe 18/20 schreibt „Risiken, die mit Chemieanlagen einhergehen, sind durch entsprechende Maßnahmen beherrschbar.“ Ja. Normalerweise schon. Bis sich die Lücke im Gedankenmodell der Entwickler und Konstrukteure, der Mangel im Material, das Problem in der Arbeitsorganisation oder die fehlende Umsetzung eines teuren Sicherheitskonzepts zeigt. Wie zum Beispiel bei der BASF in Antwerpen, als 1989 eine Ethylenoxid / Glykolanlage explodiert ist. Sachverständige beschreiben das so „Die Wucht der Explosion war so groß, dass tonnenschwere Teile von Kolonnen bis zu vier Kilometern weit weggeschleudert wurden. Schadenursache war Austreten von Ethylenoxid, das durch einen Schwingungsriss an einem Flansch in die umliegende Mineralisolierung eingedrungen ist.“ Der kürzeste Abstand zwischen der geplanten Anlage und den Wohnhäusern beträgt 250 m, schrieb die Verwaltung auf eine Anfrage der Niederkasseler Grünen im Februar. Im Januar diesen Jahres lautete eine Meldung „Nach einer Explosion in einem spanischen Chemiepark ist die Zahl der Toten am Mittwochabend auf drei gestiegen“. In der spanischen Chemie-Fabrik wird Ethylenoxid produziert. Und was passiert, wenn die bisherigen Evonik-Anlagen, die insbesondere Chlor verarbeiten mit Anlagen zur Produktion und Weiterverarbeitung von Ethylenoxid benachbart werden und ein Fehler in einer der beiden Anlagen passiert? „Bei keinem Produkt oder Konstruktion der Welt gibt es eine 100%ige Sicherheit!“, schreibt Michele Agusta in seinem Leserbrief. Die Konsequenzen Ich bin mir (fast) sicher, dass ich mich mit dem Betriebsratsvorsitzenden und den anderen BefürworterInnen über die bisherigen Aspekte einigen könnte. Nur - meine Konsequenzen gehen in eine andere Richtung. Tatsächlich halte ich den Verzicht auf die EO-Anlage in Lülsdorf für die beste Lösung. Verbunden mit der Suche nach Alternativen, nach passenden Unternehmen und Produkten, die nicht dieses Risikopotenzial haben. Kann sein, dass es naiv klingt. Aber auch der Verzicht auf die Atomenergie wurde lange als nicht machbar und nicht sinnvoll abgelehnt.


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